Ich wuchs als zweites Kind in einem kleinen Städtchen nahe Rom auf. Ein Mädchen, stolz und eigenwillig, wie die Borgia-Festung, die über das mittelalterliche, skandalbehaftete Bischofstädtchen auf dem Tuffsteinplateau thront. Ein prächtiges Sinnbild, das die Noblesse, den Mut und den Charakter kaum eindrücklicher darstellen könnte, der für all die Menschen steht, die ich später als Helden meines Alltags kennenlernen durfte.
Zweifelsohne liebe ich es auf den Pfaden der Geschichte zu wandern und mich auf denselben, hoffnungslos zu verlieren. Welch launische, schicksalshafte Eingebung mich als kleinen Erdenmensch in den Schoss dieser mittelalterlichen Stadt legte? Das steht wohl in den Sternen geschrieben. Fakt ist: Das sind die Wurzeln meiner Herkunft. Würdevoll, mutig, eigenwillg, kreativ und mit jenem kühnen, sehnsüchtigen Wind der tramontana im Haar, der irgendwie alles aufzuwühlen und alles aufzuklären vermag – so fand ich den Weg in meine Familienfestung. Und wenn ich heute meine Augen schliesse, egal wo ich bin, vermag mich der geheimnisvolle Zauber der Stadt immer wieder einzuspannen. In Gedanken wandere ich oft durch den wundervollen Dom, die Krypta, den Säulengang, durch die Vorstadtkirche Santa Maria dell’Arco und ganz besonders entlang einer geheimnisvollen Spur, die an etruskischen Nekropolen vorbei führt.
Gestatten? Mein Name ist Luana und damit sind wir schon mitten im Thema. Denn das liess sich mein einfallsreicher Herr Papa, Namensvetter des altgriechischen Autors der Ilias und der Odysee nicht nehmen, diesem sagenumworbenen Dichter des Abendlandes, in einem damals verschlafenen, römischen Vordstädchen, mit seinem Einfallsreichtum, alle Ehre zu machen. Während unter Experten Homers Dasein noch heute kontrovers diskutiert wird, erfreut sich mein Herr papà des Umstands, dass seine Existenz postmortem zweifelsfrei unbestritten ist. Auf den Sacchetti Olymp hat er es alleweil geschafft. Aber dazu später.
Papà Omero rühmte sich den Namen eines altgriechischen Dichters zu tragen und unbestrittenerweise wirkte ein grosses Talent auf ihn ein. Aber ganz unter uns gesagt, sein erstaunlicher Einfallsreichtum war die Frucht einer ausgesprochen verspielten, intelligenten und gewitzten Natur. Im lustvollen Paradies, Neues zu ersinnen, sich in Namensgebungen zu verstricken und mit Neologismen homerische Luftschlösser zu bauen, fand er den Süssstoff seines Alltags. Hier konnte er sich intellektuell und humoristisch austoben und mit jedem und allem auf seine ganz besondere Weise „abrechnen“. Die Protagonisten der Stadt und ganz unumgänglich unsere Familie blieben von Omero’s Schalk, Scherz und Schabernack nicht verschont. Und ganz unverhofft, zwischen Spiel, Spass und Satire, kündigte sich leise die Geburtsstunde meines Namens an.
Italien war nach dem zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht verarmt. Das Land sehnte sich nach Superhelden, die das Böse bekämpften und den Staub des Krieges von den Seelen wischte. Da sich die Stiefelbewohner die Rechte an amerikanischen Comics nicht leisten konnten, wurden italienische „home-style“ Abenteuer Comic Serien ins Leben gerufen, die die amerikanischen im Land ersetzen sollten. In allen Geschichten wiederholte sich das Muster des Kampfes von „gut“ gegen „böse“. Und natürlich konnten auch die Helden des Dschungels, die „tarzanidi“ und Luana – „la fille de la jungle“ nicht fehlen. Mein Vater träumte nicht anders als die anderen Jungrömer und verschlang die „Literatur der Armen“ sogar bis ins hohe Alter. Bemerkenswert war der Umstand, dass man diese Comics irgendwie nicht zu kaufen schien, denn nach dem Lesen tauschten die Stadtbewohner das wertvolle Heldengut bündelweise untereinander aus. Und zwischen den Illustrationen von Krieg und Frieden und den Erzählungen von Helden und Bösewichten fand mein Vater ganz leise, unverhofft zu mir – Luana – der kleinen, wilden Tarzanbraut, die im Dschungel für Gerechtigkeit sorgte.
Alles verliert sich im Nichts und endet mit der eigenen Vergänglichkeit wäre da nicht erfreulicherweise ein Kind, welches das Überleben des Elternteils sichert. Mein Vater und meine Mutter haben sich beide an mich weitergegeben. In meinem Namen lebt ein Stück der Geschichte meines Vaters weiter. Vielleicht ein Traum, eine Sehnsucht, eine Weisheit oder aber nur jenes wilde Dschungelkind Luana, das mit einem Schimpansen und einem Panther mit Tarzan im Urwald um die Wette und manchmal um ihr eigenes Leben rennt.
Jeder Name weckt unbewusst bestimmte Erwartungen an das Wesen des Trägers. Luana ist ein schöner, ein melodischer, ein sinnlicher und sensibler Name. Er vermittelt das Bild eines starken Mädchens, das für das Richtige und Gute einstehen will. Lieber papà, einige Erwartungen und Charaktereigenschaften, die du bewusst oder aber unbewusst an meinen Namen geknüpft hast, scheine ich erfüllt zu haben. Tja, das Leben ist ein Dschungel und ich trage dafür den richtigen Namen.
In liebevoller Erinnerung,
Deine dich liebende Luana (la fille de la jungle)